Dr. Natalja Rakowsky vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) spricht im Interview mit der Helmholtz-Wissensplattform ESKP über die Ausmaße des Tsunami vom 16. September 2015 vor Chile, Frühwarnsysteme und die Zusammenarbeit mit den chilenischen Behörden.

Warum hat der Tsunami in Chile verglichen mit den verheerenden Tsunami 2004 (Asien und Ostafrika) und 2011 (Japan) relativ wenig Schaden angerichtet?
Die Beben 2004 und 2011 waren etwa zehn Mal so stark mit Magnituden von ca. 9,0 im Vergleich zu 8,4 beim aktuellen Beben. Der Unterschied klingt nicht allzu groß, ist es aber. Mir liegen noch keine weiterführenden Berichte aus Chile vor. Weitere Gründe könnten aber sein, dass die chilenische Küste vergleichsweise sehr dünn besiedelt und steil ist, wodurch sich die Menschen in höher gelegene Gebiete retten können. Darüber hinaus wird in Chile erdbebensicher gebaut, es existiert ein Tsunami-Frühwarnsystem und der letzte stärkere Tsunami noch nicht so lange her ist (2010/Anm. d. Red.). Die Gefahr ist den Menschen in Chile also noch sehr bewusst, so dass viele wissen, wie sie reagieren müssen, sobald in Küstennähe ein starkes Beben auftritt. Nach 2010 wurden außerdem Evakuierungsrouten ausgeschildert.

In einigen Gebieten an der chilenischen Küste schlugen über vier Meter hohe Wellen auf. Wie hoch können Tsunami theoretisch werden?
Der höchste nachgewiesene Run-Up, das heißt der höchstgelegene vom Tsunami erreichte Punkt an Land beträgt 524 Meter, nach einem Landrutsch in einem Fjord in Alaska. In Indonesien erreichten die Wellen eine Höhe von gut 30 Metern.

Können Sie die Entstehung eines Tsunami mit wenigen Worten erklären?
Durch das Erdbeben wird der Meeresboden mit der gesamten Wassersäule darüber angehoben bzw. abgesenkt. Dadurch ist lokal der Wasserdruck höher als in der direkten Umgebung, denn der Druck steigt linear mit der Tiefe von der Meeresoberfläche. Das Wasser strebt zurück ins Gleichgewicht, es fließt vom Ort des Wellenberges in Richtung Wellental und löst so die Tsunamiwelle aus.

Wie funktioniert das Frühwarnsystem in Chile?
Das Frühwarnzentrum wird von der chilenischen Marine - SHOA: Servicio Hidrográfico y Oceanográfico de la Armada de Chile - in Valparaíso betrieben. Der Warnraum ist mit dem seismologischen Dienst an der Universidad de Chile, Santiago, verbunden. Außerdem betreibt SHOA Küstenpegel und Bojen mit Online-Verbindung in das Warnzentrum. Es wird nach einer international vereinbarten Entscheidungsmatrix je nach Magnitude und Ort des Bebens gewarnt, wobei die lange chilenische Küste (noch) nicht in Warnzonen aufgeteilt ist. Darum galt auch dieses Mal die Warnung für die gesamte Küste. Eine Tsunami-Szenarien-Datenbank und/oder eine Online-Simulation sind in der Planung.

Wie viel Zeit verbleibt in der Regel zwischen Warnung und Eintreffen des Tsunami?
Das hängt davon ab, wie weit der Erdbebenherd von der Küste entfernt ist. In Chile war es eine Frage weniger Minuten, bis der Tsunami die nächstgelegenen Küstenabschnitte erreicht. Im Nahfeld ist es ganz entscheidend, dass die Anwohner das Erdbeben selbst als Tsunami-Frühwarnung auffassen und sich evakuieren, wobei in Chile (wie auch in Japan) die erdbebensichere Bauweise entscheidend hilft. Die Frühwarnung ist wichtig im Fernfeld, wo das Erdbeben nicht oder nur schwach zu spüren war, und für die Mobilmachung der Katastrophenschutzes, der möglichst schnell eine Einschätzung des Ausmaßes braucht.

Welche Strecken kann ein solcher Tsunami zurücklegen?
Je nach Stärke kann ein Tsunami weltweit messbar sein. Am AWI werden wir hierzu noch Material aufbereiten: eine eigene Simulation verglichen mit Stationen rund um den Pazifik erstellen. In einigen japanischen Pegeln sehe ich jedenfalls das Signal deutlich, in anderen geht er im Rauschen unter.

Sie waren erst kürzlich nach Chile eingeladen. Inwieweit arbeiten sie mit den chilenischen Behörden zusammen?
Im Rahmen eines BMBF*-Anbahnungsprojektes "Multi-Hazard Chile" kooperieren das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), das Deutsche GeoForschungsZentrum (GFZ) und das AWI mit chilenischen Partnern. Unter anderem haben wir ein Decision Support System Prototyp (vom DLR) mit einer grob gefüllten Tsunami-Szenarien-Datenbank (vom AWI - Erdbebenquellen von SHOA bzw. Universidad de Chile) bereit gestellt. In diesem Ereignisfall wie schon bei einem vergleichbaren lokalen Tsunami im April 2014 erlaubte es eine gute Einschätzung der Lage. Allerdings handelt es sich hier um einen einfachen Prototypen als Grundlage für weitere Entwicklungen. Es ist also kein voll verlässliches Warnsystem. Mein Kollege Sven Harig hat mit Wissenschaftlern der SHOA und der Arbeitsgruppe von Professor Patricio Catalán von der Universidad Técnica Federico Santa Maria in Valparaíso Workshops zu unserem Modellcode TsunAWI veranstaltet.

Ihr Forschungsschwerpunkt ist die Tsunami-Modellierung. Wie nutzen ihre chilenischen Kollegen den Simulationscode TsunAWI?
Professor Catalans Gruppe nutzt TsunAWI im Rahmen eines Modellvergleichs. Wir haben eine kleine Datenbank für Chile erstellt, die aber nicht so umfangreich ist wie für Indonesien. Wir würden gerne TsunAWI in einer leicht vereinfachten, schnellen Variante implementieren und in Verbindung mit der Quelleninversion aus GPS-Daten für Online-Simulationen in der Frühwarnung nutzbar machen. In dem laufenden Anbahnungsprojekt ist eine hochauflösende Simulation für eine mögliche Überflutung in Valparaiso geplant.

*BMBF, Bundesministerium für Bildung und Forschung

Das Interview führte Karl Dzuba, Wissensplattform Erde und Umwelt

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