Seit langem gelten Staudämme als ideale technische Bauwerke, um Flüsse vielfältig zu nutzen. Sie schützen vor Überschwemmungen und sorgen für eine durchgängige Schiffbarkeit von Flüssen. Zudem dienen sie als Wasserspeicher für die Landwirtschaft und Trinkwasserversorgung. Vor allem aber kann mit ihrer Hilfe die Energie des Wassers zur Stromerzeugung genutzt werden. Der Bau von Staudämmen hat die Geschichte der Menschheit kontinuierlich begleitet – die ältesten archäologischen Belege für ein Staubauwerk im heutigen Iran werden auf 8000 v. Chr. datiert.

Mit Beginn des 20. Jahrhunderts nahm die Größe der Staudämme jedoch eine völlig neue Dimension an, sodass man heute von großen Staudämmen oder sogar Mega-Staudämmen spricht. Diese neuen Großbauten wie der Itaipu-Staudamm am Paraná-Fluss zwischen Uruguay und Brasilien oder der Drei-Schluchten-Staudamm in China haben eine Kapazität für die Stromproduktion, die zehn moderne Atomreaktoren übertreffen kann. Das macht sie für viele Staaten und die Energiewirtschaft so interessant.

Die erste intensive Bauphase für große Staudämme begann in bereits in den 1930er-Jahren und setzte sich bis in die 1950er-Jahre fort. Ein symbolträchtiges Bauwerk für diese erste Phase ist der berühmte Hoover-Staudamm zwischen den US-Bundesstaaten Nevada und Arizona. Eine zweite Hochphase waren die 1970er-Jahre. Damals führte Ölkrise dazu, dass zunehmend Wasserkraft als ertragreiche Alternative genutzt wurde.

Doch viele dieser Staudämme sind heute in die Jahre gekommen. Sie sind marode und befinden sich in einem schlechten baulichen Zustand. Obwohl es sich um mächtige Bauwerke aus Beton und Stahl handelt, haben sie einen begrenzten Lebenszyklus. Bauliche Mängel sind der Grund dafür, dass in den vergangenen Jahren etliche Staudämme bereits abgerissen wurden wie der Elwha-Damm im US-Bundesstaat Washington. Dort hätten die Kosten für eine Sanierung den wirtschaftlichen Nutzen überstiegen. Ein anderes Beispiel ist der Sélune-Staudamm in der Normandie, der rückgebaut wird.

Die Gründe für den schlechten Zustand vieler großer Staudämme sind vielfältig: mangelhafte Wartung, Konstruktionsmängel, Probleme mit den verwendeten Baustoffen, Erosion. Welche Folgen eine falsche Standortentscheidung haben kann, zeigt das Beispiel des in den 1980er-Jahren errichteten Mossul-Staudamms im Irak. Die 113 Meter hohe und dreieinhalb Kilometer lange Staumauer wurde damals in einem geologisch komplexen Gebiet gebaut, dessen Untergrund aus Mergel, Kalkstein, Gips und Tonstein besteht, also aus wasserlöslichen Gesteinen. Durch immer neue Löcher, Spalten und Risse können Wasserströme das Gestein unterhalb des Damms durchdringen und dafür sorgen, dass es mittlerweile stark zerklüftet ist. Diese Probleme mit dem Untergrund sind seit Jahren bekannt und erfordern einen hohen Instandhaltungsaufwand. In den erodierenden Boden wird nahezu täglich ein besonderes Beton-Gemisch gepresst. Es ist ein ständiges Wettrennen gegen den Verfall.

Infokasten: Staudämme weltweit

Schätzungen nach gibt es zwischen 45.000 und 60.000 große Staudämme weltweit. Die Anzahl kleinerer Staudämme geht in die Hunderttausende. Eine verlässliche Orientierung für die Anzahl großer Staudämme bietet die Global Reservoir and Dam Database (GranD). Der dortige Damm-Datensatz enthält 6.862 Datensätze von Stauseen und den dazugehörigen Dämmen mit einer kumulativen Speicherkapazität von 6.197 Kubikkilometern. Die Daten wurden anhand von Satellitenbildern mit hoher räumlicher Auflösung gewonnen. Das Hauptaugenmerk liegt auf Stauseen mit einer Speicherkapazität von mehr als 0,1 Kubikkilometern Wasser (Lehner et al., 2011).

Große Staudammprojekte und Mega-Staudämme können enormes Konfliktpotential für eine Region bedeuten, wie die aktuellen Aufstauungen des Mekong durch China, des Nils durch Äthiopien oder des Tigris durch die Türkei zeigen. Und längst sind diese Großprojekte wegen ihrer enormen Auswirkungen auf Flussökosysteme auch aus Sicht des Umweltschutzes in die Kritik geraten und führen zu erheblichen Protesten wie aktuelle Staudammprojekte im Amazonasgebiet zeigen. Durch den Aufstau werden viele Tier- und Pflanzenarten verdrängt, die auf fließende Gewässer angewiesen sind. Auch wird der natürliche Sedimenttransport aus den Flüssen ins Meer gestört. Die Flutung des Stausees ist zumeist mit großflächigen Umsiedlungen verbunden – es verschwinden Dörfer und Kulturlandschaften.

In vielen kleinen Ländern und Schwellenländern ist die Energiegewinnung aus Wasserkraft auch heute noch von großer Bedeutung. Dies gilt nicht nur für wasserreiche Staaten, sondern auch für trockene Regionen. Ein Beispiel hierfür sind die vom Kontinentalklima geprägten Länder Zentralasiens. Viele Anlagen dort wurden bereits zu Sowjetzeiten errichtet. Auch ihre Bausubstanz ist nicht mehr die beste. Ein weiteres Problem: Sie liegen in Gebieten, die durch häufige Erdbeben bedroht sind. Sind dort Staudämme marode, kann das dramatische Folgen haben, denn die gestauten Wassermengen sind enorm. Bei einem Bruch könnte eine Flutwelle flussabwärts rollen und ganze Siedlungen zerstören.

Ein Land, in dem das Problem besonders auftritt, ist die zwischen China und Kasachstan gelegene Kirgisische Republik. „Kirgistan ist eines der Länder mit der größten Gefährdung durch Erdbeben“, sagt Dr. Marco Pilz. Er ist Experte für seismische Gefahren am Deutschen GeoForschungsZentrum in Potsdam (GFZ) und leitet das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Projekt MI-DAM. Der Erdbebenexperte weiß: Tief unter Zentralasien kollidieren die Kontinente und die Indische Erdplatte drückt gegen die Eurasische Platte. Diese starken tektonischen Prozesse haben den Himalaya oder das Pamir-Gebirge entstehen lassen.

Durch die Spannungen im Gestein erzittert in Kirgisistan immer wieder die Erde. Das letzte schwere Erdbeben dort ereignete sich im Jahr 1992 (Ms = 7,3). Und auch danach kam und kommt es immer wieder regelmäßig zu kleineren und mittleren Beben. Die alte Bausubstanz der Staudämme und die ständige Gefährdung durch Erschütterungen oder Hangrutschungen sind für das Land ein zunehmend größer werdendes Problem. 

Echtzeit-Monitoring am Kurpsai-Staudamm

Genau hier setzt ein Team aus kirgisischen und deutschen Erdbeben-Spezialisten mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit an. Im Rahmen des Verbundprojektes MI-DAM hat das Forscherteam unter Leitung des GeoForschungsZentrums ein neuartiges Echtzeit-System entwickelt, das Staudämme überwacht und sogar Schadensprognosen liefern soll. Vor Ort wurde das Forscherteam von dem kirgisischen Projektpartner unterstützt, dem Zentralasiatischen Institut für Angewandte Geowissenschaften (CAIAG). Installiert wurde das System exemplarisch am Kurpsai-Staudamm in Zentralkirgistan – ein idealer Standort mit steil abfallen Hängen und regelmäßiger seismischer Aktivität. Kirgistan deckt seinen Energiebedarf größtenteils aus Wasserkraftwerken – sechs Anlagen wurden am Fluss Daryn errichtet, sechs am Toktogul-Stausee an der Grenze zu Usbekistan. „Kurpsai ist der zweitgrößte Damm in Kirgistan und leicht zugänglich“, erläutert Pilz die Auswahl des Untersuchungsobjekts. Für andere Staudämme wäre es schwieriger geworden, eine Zugangsberechtigung zu erhalten.

Das vom bilateralen Forscherteam entwickelte System soll Erschütterungen, Bodenbewegungen und langfristige Strukturverformungen der Bauwerke überwachen. Es besteht aus seismischen, faseroptischen und GPS-Sensoren, die ständig Daten zum Zustand der Infrastruktur und der umgebenden Berghänge erfassen und sie ohne Zeitverlust an die beteiligten Forschungsinstitute senden. Dort fließen die Daten in Computermodelle, die wiederum Schadensprognosen ermöglichen – das wichtigste „Produkt“ des Forschungsprojekts. Durch die Prognosen können die Verantwortlichen konkrete Maßnahmen ergreifen – bis hin zur Evakuierung von Siedlungen oder Industrieanlagen. Sichtbar werden die Prognosen anhand eines Ampelsystems. Grün bedeutet, dass die Erschütterung folgenlos für den Damm geblieben ist. Gelb hingegen heißt, dass eine Inspektion notwendig ist. Bei Rot ist mit großen Schäden zu rechnen und ein Eingreifen von Betreibern und Behörden erforderlich.

Das System zur Echtzeitverarbeitung des Schadenszustands wurde während der Projektlaufzeit ständig verbessert. Schon ein halbes Jahr nach dem Start im Herbst 2017 wurde eine erste Version installiert, die bis heute immer weiter verfeinert wurde. In Verbindung mit Langzeitmessungen am Staudamm und den steilen Berghängen rings um den Stausee können sich sogenannte Fragilitätskurven errechnen lassen, welche für einzelne Infrastrukturobjekte den Eintritt möglicher Schäden beispielsweise durch ein starkes Erdbeben beschreiben.

Neben den Schäden am Bauwerk stellen Steinschläge und Bergrutsche nach Aussage von GFZ-Forscher Pilz eines der größten Probleme für Wasserkraftwerke in diesen Gebirgsregionen dar Welche Folgen ein Hangrutsch oberhalb der Staumauer haben kann, wenn ganze Bergflanken abbrechen und Millionen Kubikmeter Gestein in den aufgestauten See stürzen, zeigt die Katastrophe von Vajont im Jahr 1963 im italienischen Friaul. Die durch den Bergrutsch ausgelöste gigantische Welle ließ ein Sechstel des Stauvolumens über die Dammkrone schwappen. Eine Gemeinde wurde komplett zerstört, 1800 Menschen starben. Wissenschaftler hatten später errechnet: Der Aufprall der Gesteinsmassen setzte eine Energie frei, die der von drei Hiroshima-Bomben entsprechen würde.

Breite Einsatzmöglichkeiten über Staudämme hinaus

Der Einsatz der im Projekt MI-DAM verwendeten neuen Multiparameter-Sensoren – neben der Software das Herzstück des neuen Frühwarnsystems – ist nicht auf Staudämme beschränkt. Auch in anderen wichtigen Versorgungseinrichtungen, die zur sogenannten kritischen Infrastruktur zählen, sowie in erdbebengefährdeten Gebäuden können solche Überwachungssysteme zum Einsatz kommen. In der kirgisischen Hauptstadt Bischkek werden gegenwärtig ähnliche Sensoren unter anderem in großen Wohnblöcken, in Universitätsgebäuden und in einem Ministerium getestet.

Eine weitere Aufgabe im Rahmen des Projekts steht noch bevor: die Schulung der Verantwortlichen vor Ort. Hierbei sollen die beteiligten kirgisischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine Schlüsselrolle einnehmen und auch künftig in Kooperation mit den deutschen Partnern die Datenanalyse leisten. Letztendlich wird das Überwachungssystem nur dann gut funktionieren, wenn durch das Know-How vor Ort eine langfristige Wartung und Pflege gewährleistet wird.

Infokasten: Fördermaßnahme CLIENT II

Das Projekt MI-DAM wird innerhalb der Fördermaßnahme „CLIENT II – Internationale Partnerschaften für nachhaltige Innovationen“ gefördert. In CLIENT II unterstützt das BMBF internationale Forschungskooperationen mit Schwellen- und Entwicklungsländern mit derzeit rund 50 Vorhaben in 24 Ländern. Die Projekte erarbeiten innovative und nachhaltige Lösungen für den Klima-, Umwelt-, Ressourcen- und den Energiebereich. Ziel ist die Entwicklung von Technologien, Produkten, Dienstleistungen und Systemlösungen. Die Zusammenarbeit von deutschen und internationalen Partnern ermöglicht Lösungen, die an lokale Rahmenbedingungen angepasst und damit marktfähig sind.

Text: Oliver Jorzik (Earth System Knowledge Platform | ESKP), Henning Kraudzun (Projekträger Jülich)
Fachliche Begutachtung: Dr. Marco Pilz (Helmholtz-Zentrum Potsdam, Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ)

Referenzen und weiterführende Informationen

  Bundeszentrale für politische Bildung – bpb. (o.D.). Staudämme weltweit [sicherheitspolitik.bpb.de]. Aufgerufen am 23.11.2020.

  Central-Asian Institute for Applied Geosciences – CAIAG. (o.D.). [Webseite des Zentralasiatischen Instituts für Angewandte Geowissenschaften in Bishkek, caiag.kg/en]. Aufgerufen am 23.11.2020.

  GEO:N – Geoforschung für Nachhaltigkeit. (2020, 19. Oktober). [Fachprogramm „GEO:N- Geoforschung für Nachhaltigkeit“, www.fona.de/de]. Aufgerufen am 23.11.2020.

  Geofon. (o.D.). [Aktuelle Erbebeninformationen des Deutschen GeoForzungsZentrums GFZ, geofon.gfz-potsdam.de]. Aufgerufen am 23.11.2020.

  International Hydropower Association – IHA. (2020, März). Country Profile: Kyrgyzstan [www.hydropower.org]. Aufgerufen am 23.11.2020.

  Lehner, B., Liermann, C. R., Revenga, C., Vorosmarty, C., Fekete, B., Crouzet, P., ... Wisser, D. (2011). Global Reservoir and Dam Database, Version 1 (GRanDv1): Reservoirs, Revision 01. Palisades: NASA Socioeconomic Data and Applications Center (SEDAC). doi:10.7927/H4HH6H08

  MI-DAM. Multiparameter Beobachtung und Echtzeit Risikobewertung von Wasserkraftwerken in der Kirgisischen Republik. (o.D.). [Projektwebseite, www.bmbf-client.de/projekte/midam]. Aufgerufen am 23.11.2020.

  The Global Seismic Hazard Map Online. (o.D.). [Seismische Gefährdung weltweit, gmo.gfz-potsdam.de]. Aufgerufen am 23.11.2020.

DOI
https://doi.org/10.2312/eskp.052

Veröffentlicht: 02.12.2020, 7. Jahrgang

Zitierhinweis: Jorzik, O. & Kraudzun, H. (2020, 2. Dezember). Frühwarnsystem für gefährdete Staudämme. Earth System Knowledge Platform [eskp.de], 7. doi:10.2312/eskp.052

Text, Fotos und Grafiken soweit nicht andere Lizenzen betroffen: eskp.de | CC BY 4.0
eskp.de | Earth System Knowledge Platform – die Wissensplattform des Forschungsbereichs Erde und Umwelt der Helmholtz-Gemeinschaft