In einem gemeinsamen Wissenschaftsprojekt des Alfred-Wegener-Instituts und des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung – UFZ trafen sich Meeresforscher und Landnutzungsexperten, um ihr Wissen über Biodiversität zu bündeln und kluge Synthesen zu bilden – im Dienste der Biodiversität. Denn unser Forschungswissen ist maßgeblich geprägt von unserer Wahrnehmung – und damit auch eingeschränkt. Tatsächlich befindet sich die Meeresnutzung inmitten eines historischen Wandels, der nur vergleichbar ist mit dem Wandel von der Jagdgesellschaft zur Agrargesellschaft an Land. Mit enormen Folgen für die Biodiversität.

Seit mehr als hundert Jahren untersuchen Forscherinnen und Forscher die Ökosysteme an Land und im Meer. Die systematische Nutzung beider Systeme als Lebensgrundlage reicht hunderte und tausende Jahre zurück. Gleichzeitig verändern wir Menschen diese Ökosysteme durch unsere Nutzung. Die Erforschung beider Systeme erfolgt jedoch oft sehr unterschiedlich. So bildeten sich in der Vergangenheit marine und terrestrische Forschungsgemeinschaften und Forschungsbereiche heraus, die oftmals getrennt voneinander arbeiten. In der Folge haben sich unterschiedliche Forschungstraditionen entwickelt. Bei näherer Betrachtung sind jedoch die ökologischen Gesetzmäßigkeiten, die den Forschungstraditionen zugrunde liegen, gar nicht so verschieden.

Wir wissen heute, dass terrestrische und marine Ökosysteme eng miteinander verknüpft sind. Würde man es schaffen, die maritime und terrestrische Forschung besser zu verbinden, könnte dies unser Verständnis der Auswirkungen des globalen Wandels auf die Biodiversität erhöhen. Möglicherweise ließen sich sogar Fehler aus der Vergangenheit vermeiden, die zwangsläufig zu Lasten der Biodiversität gehen. Genau an diesem Schnittstellenproblem wurde nun beim Alfred-Wegener-Institut (AWI) und dem Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung – UFZ angesetzt. Das Ziel:  Eine Brücke zwischen den Forschungsdisziplinen zu bauen und den Wissenstransfer im Dienste der Biodiversität zu verbessern. Dazu wurde ein spannender Weg beschritten, um Ansätze für eine vertiefte Zusammenarbeit zu finden. Ein produktiver Wissenstransfer innerhalb der Forschung sozusagen. Und vielleicht würde man sogar konkrete Handlungsaufforderungen und Ansatzpunkte für die Politik finden.

Zwei Forschungswelten miteinander verbinden

In einer Reihe von Workshops unter dem Dach der Wissensplattform Erde und Umwelt – ESKP trafen sich 2014 und 2015 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des AWI und des UFZ. Der Wissenstransfer-Prozess wurde als sogenanntes Delphi-Verfahren aufgesetzt und erfolgte in mehreren Stufen. Nach einer intensiven Literaturrecherche wurden zunächst die Experten aus den beiden Forschungsbereichen gefragt: „Wie bewerten Sie die Auswirkungen menschlichen Handelns auf die terrestrische und marine Biodiversität?“ Zentrale Themenfelder waren dabei: chemische Inputs, steigende Temperaturen, Anstieg der atmosphärischen Konzentration von CO2, biologische Invasionen, Verlust, Degradierung und Fragmentierung von Lebensraum, Jagd und Fischerei sowie Inputs von Nähr- und Schadstoffen.

In einer zweiten Runde – ein wichtiger Teil des Delphi-Prozesses – wurden die Experten, die an der ersten Runde teilgenommen hatten (21 terrestrische und 18 marine Experten) gebeten, die anonymisierten Ergebnisse der ersten Runde einer nochmaligen Bewertung zu unterziehen, um kompakte Aussagen zu erhalten. Im Anschluss verglichen die Initiatoren des Projekts die endgültigen Urteile der Experten mit den Erklärungsansätzen aus der Literatur und der damit verbundenen Ausgangsfrage: Wir wirkt sich der globale Wandel auf die terrestrische und marine Biodiversität aus?

Regeln für die Bewirtschaftung der Meere dringend nötig

Die Ergebnisse des interdisziplinären Wissenschaftsexperiments sind vielschichtig. So werden die Auswirkungen menschlichen Handelns auf die Biodiversität von marinen und terrestrischen Experten völlig unterschiedlich wahrgenommen. Diese Unterschiede in der Wahrnehmung werden bestimmt durch grundlegende Unterschiede: Land und Meere werden verschieden intensiv von Menschen genutzt. Auch die Möglichkeit, die Biodiversität an Land und im Meer wissenschaftlich zu untersuchen, sind ungleich verteilt. In der Regel ist die Forschung an Land wesentlich einfacher als auf hoher See. Hinzu kommt: In den jeweiligen Systemen sieht es im zeitlichen Verlauf völlig anders aus, wenn es um die Folgen des globalen Wandels auf die Biodiversität geht.

Dieses zeigt sich am Beispiel Meer besonders deutlich: Zum einen nimmt der Grad und Umfang der menschlichen Nutzung und demnach Ausbeutung des Meeres drastisch zu. Gleichzeitig haben menschlich bedingte Umweltveränderungen heute globale und systemübergreifende Auswirkungen und nicht mehr nur „regionale“. Die Experten von AWI und UFZ kommen zu dem Schluss, dass wir gegenwärtig eine enorme Veränderung der Nutzung der Meere erleben. Dieser Veränderungsprozess bei der Meeresnutzung stellt eine historische Zäsur dar, gleicht er doch dem historischen Übergang von Jägern und Sammlern zu Landwirten und zur Agrargesellschaft an Land vor vielen tausend Jahren. Bislang wurde das Meer wie in alten Jagdkulturen an Land häufig frei „bewildert“. Heute bestimmen neben vielen anderen Nutzern mancherorts auch Aquakulturen das Bild. Die industrielle Nutzung des Meeres schreitet rasant voran. Mit Folgen für die Ökosysteme. Denn die Gefahr ist groß, dass sich an Land gemachte Fehler nun im Meer wiederholen. Angetrieben durch die gesteigerte Nachfrage und vom profitorientiertem Kaufverhalten der Konsumenten wurde auf der Suche nach günstigen Nahrungsmitteln aus dem Meer die Fischerei technisch perfektioniert. Dies führte zu einem extrem starken Anstieg in der Ausbeutung der Fischbestände, sodass der Fischbestand und damit die Biodiversität in der Folge extrem stark bedroht und als Folge Aquakulturen entwickelt wurden. Allerdings ist derzeit verstärkt weltweit Bemühungen zu mehr nachhaltiger Entwicklung von Aquakulturen festzustellen.

Daher fordern die Forscherinnen und Forscher von AWI und UFZ:

  • Bei der Ernte und Bewirtschaftung müssen die Vorschriften wirksamer werden. Dies gilt vor allem für Lebensgemeinschaften im Meer, aber auch in einigen Gebieten an Land. Es sollten dabei nachhaltige Formen der Jagd und des Fischens verwendet werden, um Wildtiere besonders zu schützen. Ein Beispiel aus Namibia zeigt, dass die Fülle an Wildtierarten insgesamt zunehmen kann, wenn lokale Gemeinschaften wirtschaftlich vom Trophäenjagdtourismus profitieren (Di Minin et al., 2016).
  • Die Nutzung von Meeresgebieten bleibt (noch) hinter der Landnutzung zurück. Jedoch werden spezielle Formen der Landnutzung zunehmend in marinen Bereichen angewandt, beispielsweise in Form von Aquakulturen oder der marinen Urbanisierung – sprich dem Aufbau künstlicher Strukturen im Meer. Dies zieht vielfach enorme ökologischen Folgen nach sich (Dafforn et al., 2015). Die Bedeutung des Verlusts an marinem Lebensraum für die Biodiversität sollte daher nicht unterschätzt werden.
  • Die Verwendung von Nährstoffen (Düngemitteln) und Chemikalien muss strengeren Regeln unterliegen. Das Nährstoffangebot ist in vielen Ökosystemen unnatürlich hoch, die Eutrophierung nimmt zu. (Li et al., 2015)
  • Die Menschheit muss den Klimawandel stoppen, um dessen negative Effekte zu verhindern, sowohl an Land als auch in Meeressystemen.
  • Die biologische Invasionen von Arten ist wesentlich von Handel und Verkehr getrieben, unabhängig ob marin oder terrestrisch (Hulme, 2009). Diese Wege der Arteneinführungen sollten stärker reguliert werden, da Invasionen zu Lasten der lokalen Biodiversität gehen können.

Ein wesentliches Ergebnis des Wissenschaftsexperiments: Aus systemischer Sicht folgen Veränderungen der terrestrischen und der marinen Biodiversität ähnlichen Prinzipien. Die systemübergreifende Synthese ist die einzige Möglichkeit, solche Ähnlichkeiten und Unterschiede zu verstehen. Nur so lässt sich feststellen, warum und wie sich die Biodiversität verändert. Das Potenzial, dass beide Forschungsbereiche im Dienste der Biodiversität weiter voneinander lernen, vorhandenes Forschungswissen intelligent verknüpfen und die Erkenntnislage weiter verbessern, ist groß. Und natürlich lässt sich die Methodik auf viele andere Forschungsthemen übertragen, bei denen Defizite in der interdisziplinären Zusammenarbeit bestehen. Das ist vielleicht das wichtigste Ergebnis: Das Experiment als Lernbeispiel für andere Wissenschaftsbereiche.

Referenzen

  Dalkey, N. & Helmer, O. (1963). An Experimental Application of the Delphi Method to the Use of Experts. Management Science, 9(3), 458-467. doi:10.1287/mnsc.9.3.458

  Hsu, C. & Sandford, B. (2007). The Delphi Technique: Making Sense of Consensus. Practical Assessment, Research & Evaluation, 12(10), 1-8.

  Knapp, S., Schweiger, O., Kraberg, A., Asmus, H., Asmus, R., Brey, T., ..., Krause, G. (2017). Do drivers of biodiversity change differ in importance across marine and terrestrial systems — Or is it just different research communities' perspectives? Science of The Total Environment, 574, 191-203. doi:10.1016/j.scitotenv.2016.09.002

  Menge, B. A., Chan, F., Dudas, S., Eerkes-Medrano, D., Grorud-Colvert, K., Heiman, K., ..., Zarnetske, P. (2009). Terrestrial ecologists ignore aquatic literature: Asymmetry in citation breadth in ecological publications and implications for generality and progress in ecology. Journal of Experimental Marine Biology and Ecology, 377(2), 93-100. doi:10.1016/j.jembe.2009.06.024

  Raffaelli, D., Solan, M. & Webb, T. J. (2005). Do marine and terrestrial ecologists do it differently?Marine Ecology Progress Series, 304, 283-289.

  Rotjan, R. D., Idjadi, J. (2013). Surf and Turf: Toward better synthesis by cross-system understanding. Oikos, 122(2), 285-287. doi:10.1111/j.1600-0706.2013.21047.x

  Ruttenberg, B. I. & Granek, E. F. (2011). Bridging the marine-terrestrial disconnect to improve marine coastal zone science and management. Marine Ecology Progress Series, 434, 203-212. doi:10.3354/meps09132

  Stergiou, K. I. & Browman, H. I. (2005). Bridging the gap between aquatic and terrestrial ecology – Introduction. Marine Ecology Progress Series, 304, 271-272.

Weiterführende Informationen

  Beitrag des AWI zu Aquakulturen: Nahrungsquelle und Schatzkammer
  Pressemitteilung des UFZ: Lachs mit Nebenwirkungen

Veröffentlicht: 07.04.2017, 4. Jahrgang

Zitierhinweis: Kraberg, A. & Knapp, S. (2017, 07. April). Biodiversität: Erst das Land, jetzt das Meer. Earth System Knowledge Platform [eskp.de], 4https://www.eskp.de/klimawandel/biodiversitaet-wissenschaftsprojekt-awi-ufz-935923/

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