Jeder kennt inzwischen wohl den Anblick: Plastikmüll am Strand oder auch im Meer. Dabei ist es nicht nur dieses augenfällige Problem des Mülls, vielmehr treiben zusätzlich zu Tüten oder Eimern auch Fischernetze oder winzige Gewebereste in den Ozeanen: Sogar in den Polargebieten, in der Tiefsee, an der Wasseroberfläche oder am Meeresgrund findet sich Plastik.
Zu welchen kurz- und langfristigen Problemen für die verschiedenen Lebensräume und Ökosysteme das führen kann, beschäftigt auch die Wissenschaft. In einem Interview erläutern Melanie Bergmann und Lars Gutow vom Alfred-Wegener Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) einige Aspekte, die noch unerforscht sind und nur gemeinschaftlich angegangen werden können.
Müll wird überall in den Meeren gefunden. Warum müssen wir hierzu noch forschen?
Das ist korrekt. Wir finden Müll mittlerweile in allen Bereichen der Meere: an der Wasseroberfläche, in der Wassersäule, am Meeresboden, im Meereis und sogar in den Organismen. Dennoch ist es bisher nicht möglich, das Ausmaß dieses Problems vollständig abzuschätzen. Es liegen gut begründete Abschätzungen vor, wie viel Müll sich über die vergangenen Jahrzehnte in den Ozeanen angesammelt haben muss. Wir haben auch eine Vorstellung von den globalen Verteilungsmustern. Wenn wir jedoch hinaus auf die Ozeane fahren, um das Müllvorkommen dort zu messen, kommen wir stets zu Zahlen, die zum Teil um das Tausendfache niedriger liegen als die geschätzten Mengen. Das könnte natürlich bedeuten, dass die Schätzungen viel zu hoch angesetzt sind und gar nicht so viel Müll in die Ozeane gelangt. Viel wahrscheinlicher ist jedoch – und darin sind sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einig – dass der Müll dort ist, wir ihn aber nicht finden. Bedeutende Senken des Mülls in den Ozeanen haben wir also noch gar nicht erfasst. Dort müssen sich mittlerweile enorme Mengen an Müll angehäuft haben.
Ferner ist ein großer Teil des Plastikmülls zu kleinsten Partikeln zerfallen, die mit herkömmlichen Methoden nicht hinreichend erfasst werden. Und schließlich ist noch völlig unklar, wie viel des Plastikmülls von den Organismen aufgenommen wurde.
Trotz dieser erheblichen Wissenslücken wird vielfach argumentiert, dass wir genug wissen, um die Notwendigkeit zum Handeln zu erkennen. Weitere Grundlagenforschung sei nicht erforderlich, um geeignete Maßnahmen ergreifen zu können. Natürlich wissen wir genug, um sagen zu können, dass sich hier ein globales Umweltproblem entwickelt hat, das ein schnelles Handeln zwingend erforderlich macht. Allerdings wäre es grob fahrlässig, die Grundlagenforschung hierzu einzuschränken. Es würde ja auch niemand vorschlagen, die Forschung zum Klimawandel einzustellen, nur weil wir wissen, dass sich die Erdatmosphäre aufgrund der industriellen Verbrennung fossiler Rohstoffe erwärmt. Nur wenn wir das Ausmaß des Problems und seine Auswirkungen auf die Ökosysteme und den Menschen kennen, können wirksame Gegenmaßnahmen entwickelt werden.
Die Forschung zu Müll in den Ozeanen macht derzeit enorme Fortschritte. Gleichzeitig wird dieses Forschungsgebiet aufgrund seiner Fülle für Entscheidungsträger, Behörden, Umweltverbände, die Medien und den interessierten Bürger zunehmend unübersichtlich. Hinzu kommt, dass aufgrund von Wissenslücken und verzerrter Darstellung von Tatsachen zahlreiche Halbwahrheiten und Mythen verbreitet werden. So ist beispielsweise bei vielen Menschen mittlerweile der Eindruck entstanden, als würden sich in den großen zentralozeanischen Wirbeln (Gyren) gigantische geschlossene Müllteppiche von Horizont zu Horizont erstrecken. Tatsächlich sieht man dort draußen auf den Ozeanen hauptsächlich Wasser. Man begegnet nur eben relativ häufig treibenden Müllobjekten, was in einer vom Menschen nicht besiedelten Region schon sehr bemerkenswert ist. Um das vorhandene Wissen aus der Forschung besser verfügbar zu machen, erstellen wir am AWI derzeit das Online-Portal LITTERBASE. Diese Informationsplattform ist Teil der Wissensplattform "Erde und Umwelt". Auf ihr werden die wichtigsten Informationen zu Müll in den Ozeanen kontinuierlich aktualisiert und allgemeinverständlich dargestellt.
Warum bestehen trotz intensiver Forschung immer noch erhebliche Wissenslücken?
Der Müll in den Ozeanen ist ein relativ neues Umweltproblem. Erstmalig wurde zwar bereits gegen Ende der 1960er Jahre auf das Vorkommen von Müll in den Meeren hingewiesen. Als ein massives globales Umweltproblem wurde es jedoch erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts erkannt, als man die Anhäufung treibenden Mülls in den zentralozeanischen Wirbeln sowie den Zerfall von Kunststoffprodukten zu Mikroplastik aufzeigte. Erst da wurde deutlich, dass sich gigantische, für den Menschen weitgehend unsichtbare Mengen an Plastikmüll in den Ozeanen befinden müssen, die eine erhebliche Gefahr für die Meeresumwelt darstellen können.
Seither ist die Forschung auf diesem Gebiet stark intensiviert worden. Allerdings ist der Müll in den Ozeanen hinsichtlich Form, Größe und chemischer Zusammensetzung ebenso vielfältig wie seine Wirkungsweise auf die Umwelt, die Lebensräume und die darin lebenden Organismen. Hinzu kommt, dass die Organismen ebenfalls sehr vielfältig sind und somit auch unterschiedlich sensibel auf Müll im Meer reagieren. Die hinreichend bekannten Bilder von Meeresschildkröten, Robben und Walen, die sich in Netzen verfangen und daran verenden, sind leider nur die Spitze des Eisberges.
Wo besteht dringender Forschungsbedarf?
Die naturwissenschaftliche Grundlagenforschung muss erfassen, wieviel und wo Müll sich wirklich in der Umwelt befindet. Sie muss auch die Quellen identifizieren. Zahlreiche, teilweise auch wissenschaftlich verwertbare Daten können hierzu die Aktivitäten von Umweltverbänden und Behörden liefern, die Strandreinigungen und Müllzählungen vornehmen. In schwerer zugänglichen Bereichen der Meere wie der Tiefsee muss jedoch modernste Technologie zum Einsatz kommen, um verlässliche Daten zu liefern und langfristige Entwicklungen zu identifizieren.
Hierzu errichtet das AWI im Rahmen des FRAM-Infrastruktur-Programms ein Beobachtungszentrum für Meeresverschmutzung ein. Es wird zur Dauerbeobachtungsstation HAUSGARTEN in der arktischen Tiefsee gehören. Unsere Beobachtungen sowie die Beobachtungen anderer Wissenschaftler/innen deuten darauf hin, dass die Verschmutzung der Meere mit Müll auch in abgelegenen Regionen wie der Arktis und der Tiefsee deutlich zunimmt. Mit einem dauerhaften Observatorium können wir die Zunahme des können wir dort zahlreiche weitere umweltrelevante Parameter erfassen. Diese Daten ermöglichen, Mechanismen zu identifizieren, die zum Eintrag von Müll in dieser Region führen, die ja vom Menschen eigentlich sehr spärlich besiedelt ist.
Weiterer dringender Forschungsbedarf besteht auf dem Gebiet der Auswirkungen des Mülls. Bilder von toten Seevögeln, deren Mägen mit Plastik gefüllt sind, und von strangulierten Seehunden und Walen verdeutlichen die Effekte auf einzelne Individuen sehr anschaulich. Nach wie vor ist jedoch völlig ungewiss, wie sich diese Beeinträchtigungen auf die Populationen oder auch ganze Ökosysteme auswirken.
Ganz sicher sind die gestorbenen Tiere keine Einzelfälle. Aber sind die Verluste so stark, dass ganze Populationen bedroht sind? Um dies zu ermitteln, müssen die Effekte des Mülls stets im Zusammenhang mit anderen Belastungen wie dem Klimawandel, der Überfischung und der Sauerstoffarmut betrachtet werden. Auch diese Faktoren belasten die Meeresorganismen enorm. Hinzu kommt die biogeographische Komponente: zahlreiche Organismen reisen auf sehr beständigem, treibendem Müll mit den Oberflächenströmungen über die Weltmeere. Dies erhöht die Gefahr der Einschleppung gebietsfremder Arten. Der weltweite Transport von Organismen wird derzeit als eine der größten Bedrohungen der globalen Biodiversität eingestuft. Hinzu kommt, dass neben Tieren und Pflanzen auch Krankheitserreger mit dem Treibgut verbreitet werden können. Damit kann der Müll auch für den Menschen unmittelbar zur Gesundheitsgefährdung beitragen.
Sehr deutlich ist das Wissensdefizit derzeit bei der Wirkung von Mikroplastik oder dem noch kleinerem Nanoplastik. Hier steht die Wissenschaft tatsächlich noch ganz am Anfang. Bisher vorliegende Studien deuten auf sehr unterschiedliche Sensibilitäten der verschiedenen Arten hin. Dies lässt sich auf die unterschiedlichen Lebensräume der verschiedenen Tierarten zurückführen. Auch spielen unterschiedliche Lebensweisen, die Anatomie, Physiologie und die Verbreitung von Arten eine wichtige Rolle.
Am AWI führen wir derzeit Studien zur Sensibilität unterschiedlicher Arten durch, die uns helfen werden, besonders sensible Organismen oder Organismengruppen zu identifizieren. Nanopartikel können aufgrund ihrer Größe sogar Zellmembranen duchdringen. Was Nanoplastik im Innern von Körperzellen auslösen kann, ist bisher noch völlig unbekannt.
Und schließlich wissen wir tatsächlich gar nicht, wie viel Mikroplastik sich in der Umwelt befindet und wie es verteilt ist. Genaue Abschätzungen scheitern derzeit daran, dass international keine einheitlichen Methoden zur Erfassung, Quantifizierung und Charakterisierung von Mikroplastik existieren. Daher erarbeiten Mitarbeiter des AWI gemeinsam mit internationalen Partnern einheitliche Standards, um zukünftig das Ausmaß der Verschmutzung global abschätzen zu können. Das Projekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert.
Was kann die Wissenschaft zur Lösung dieses Umweltproblems beitragen?
Als Naturwissenschaftler sind wir hauptsächlich in der Rolle das Ausmaß und die Folgen des Problems aufzuzeigen. Hier darf unsere Kompetenz jedoch nicht aufhören. Als logischer nächster Schritt müssen Strategien für den Umgang mit dem Problem entwickelt werden. Dies kann die Naturwissenschaft jedoch nicht alleine leisten.
Hierfür ist eine enge Zusammenarbeit mit den Geistes- und Ingenieurwissenschaften erforderlich. Die Geisteswissenschaften müssen die sozio-ökonomischen Auswirkungen sowie die Einstellung der Gesellschaft zu diesem Umweltproblem ergründen. Es ist schließlich unmöglich, ein globales Umweltproblem zu lösen ohne die Gesellschaft dabei mitzunehmen - zumal wir als Gesellschaft verantwortlich für dieses Umweltproblem sind. Daher müssen die sozio-ökonomischen Auswirkungen deutlich herausgearbeitet werden, um die Notwendigkeit aber auch den Rahmen des gesellschaftlichen Handelns aufzuzeigen. Dies darf allerdings nicht isoliert von den Naturwissenschaften erfolgen, da nachhaltige Managementmaßnahmen die Belastungsgrenzen der Natur stets im Auge behalten müssen. Ein ganz wichtiger Schritt bei der Umsetzung gesellschaftsbeteiligender Lösungsmaßnahmen ist die Bewusstseinsbildung in der Gesellschaft für dieses Umweltproblem. An diesem Prozess sind wir als Naturwissenschaftler in einem frühen Stadium bereits stark beteiligt. Auf zahlreichen Veranstaltungen im In- und Ausland berichten wir von unserer Forschung. Dabei sprechen wir nicht nur andere Wissenschaftler/innen an, sondern im großen Umfang beantworten wir auch Anfragen von Bürgergruppen, Journalisten, Verbänden, Behörden, Unternehmen und der Politik. Auf diese Weise versuchen wir, zu der Sensibilisierung der Gesellschaft für das Problem des Mülls in den Meeren beizutragen.
Das Online-Portal LITTERBASE wird hierbei sehr wichtig sein, da es die wissenschaftliche Information für die verschiedenen Interessengruppen gut verständlich zugänglich machen wird.
Ingenieure werden letztendlich Verfahren und alternative Materialien entwickeln müssen, die es uns ermöglichen werden, den Eintrag von Müll in die Umwelt zu reduzieren. Denn nur darin liegt der langfristige Schlüssel zur Lösung des Problems. Auch diesen Prozess werden Naturwissenschaftler begleiten müssen, um zu gewährleisten, dass die alternativen Verfahren und Materialien naturverträglich gestaltet werden. Dies wird eine sehr enge Kooperation erfordern. In besonderer Verantwortung steht hier die Industrie, die als Hersteller und Anbieter einen besonderen Einfluss auf die Anwendung neuer, innovativer Verfahren und Produkte ausübt.
Linktipp
Lars Gutow vom Alfred-Wegener Institut macht Vorschläge zur Reduzierung und Vermeidung von Plastikmüll (Quelle: Wissenschaftsjahr Meere und Ozeane)
Gunnar Gerdts vom Alfred-Wegener Institut äußert sich in einem Podcast zum Thema Plastikmüll (Quelle: FONA)
Über welche Regionen wissen wir noch zu wenig? Beitrag im ESKP-Themenspezial "Plastik in Gewässern"