Zahlreiche Ballungsgebiete weltweit wie Istanbul, Tokio oder Mexiko City sind einem erhöhten Erdbebenrisiko ausgesetzt. In der türkischen Metropole rechnen Wissenschaftler aufgrund der Nähe zur Nordanatolischen Verwerfung, wo sich die Eurasische gegen die Anatolische Platte verschiebt, mit einem größeren Beben in der Zukunft. In Istanbul und weiteren Städten wird mit dem Sensor-Frühwarnsystem SOSEWIN im Verbund mit weiteren Forschungsprojekten nach technischen Lösungen gesucht, um Erdbeben schnell zu erfassen und mit schnellen Schutzmaßnahmen katastrophale Schäden zu vermeiden oder zumindest zu begrenzen.

Zwar ist mit dem heutigen Wissensstand eine Erdbebenvorhersage nicht möglich, dennoch können Erdbeben schnell erkannt werden. Bei Frühwarnsystemen wird die Kenntnis über die unterschiedliche Laufzeit von Erdbebenwellen genutzt. Der Handlungsspielraum für Schutzmaßnahmen ist aber äußerst gering, da nur wenige Sekunden zwischen dem Eintreffen der Kompressionswelle (P- oder Primärwelle) mit kleiner Amplitude und der darauf folgenden zerstörerischen Scherwelle (S- oder Sekundärwelle) vergehen.

Jedoch können in dieser Zeit zumindest technische Anlagen wie Strom- und Gasleitungen abgeschaltet, Züge gestoppt, Brücken gesperrt sowie gefährliche industrielle Prozesse heruntergefahren werden. Die Schäden durch die eigentliche Erderschütterung fallen im Vergleich zu den Folgeschäden, zumeist ausgelöst durch Brände, nur gering aus.

Hohes Gefährdungspotenzial in Istanbul

Istanbul ist mit knapp 14 Millionen Einwohnern die bevölkerungsreichste Stadt der Türkei und trägt rund 50 Prozent zur Wirtschaftsleistung des Landes bei. Die Erdbebenaktivitäten entlang der Nordanatolischen Verwerfung seit 1939 zeigen eine Serie starker Beben vom Osten der Türkei westwärts auf Istanbul hin wandernd. Das letzte Beben ereignete sich 1999 nur knapp 100 Kilometer östlich von Istanbul nahe der Stadt Izmit. Für den Abschnitt des Marmara-Meeres südlich von Istanbul ergibt sich danach ein längerer Zeitraum ohne größeres Erdbeben, der ein Beben einer möglichen Magnitude 7 wahrscheinlich macht. Aufgrund des sehr komplexen Verwerfungssystems kann aber weder die letztendliche Stärke eines solchen Bebens noch die Lage des Epizentrums oder die mögliche Ausbreitung des Bruches vorhergesagt werden.

Für Istanbul wurde das Beobachtungsnetz IRREWS (Istanbul Earthquake Rapid Response and Early Warning System) innerhalb des Stadtgebietes aufgebaut. Dieses umfasst zehn so genannte real-time (Echtzeit) Strong-Motion-Stationen entlang der Küste und über 100 Strong-Motion-Stationen in Gebäuden. Die Echtzeit-Stationen sind nahe des nördlichen Ausläufers der Nordanatolischen Störung installiert. Melden drei benachbarte Stationen eine Erschütterung, entscheidet die Zentrale des türkischen Erdbebendienstes, ob eine Alarmsituation vorliegt.

Im Gegensatz dazu dienen die Geräte in Gebäuden hauptsächlich dazu, sehr starke Bodenbewegungen aufzuzeichnen, um deren Zusammenhang mit möglichen Bauschäden feststellen zu können.

Seit Sommer 2008 wird dieses System mit einem am GeoForschungsZentrum Potsdam entwickelten dezentralen, sich selbst organisierenden Frühwarnsystem erweitert. SOSEWIN (Self-Organizing Seismic Early Warning Information Network) stellt den Prototyp eines drahtlos über WLAN kommunizierenden Sensornetzwerks dar. Es gewährleistet eine echtzeitfähige Übertragung großer Mengen vorverarbeiteter Daten.

Flächendeckendes Frühwarnsystem für tausende Gebäude

Ein SOSEWIN-Knoten/-Sensor besteht aus einer Sensoreinheit und einem Mini-PC. Wird an einem Sensor-Knoten ein vorgegebener Grenzwert der Bodenbeschleunigung überschritten, so kommuniziert er mit den Nachbarknoten des Netzwerks. Zeigen diese im selben Zeitfenster eine vergleichbare Beobachtung, kann dezentral eine Frühwarnung ausgelöst werden.

Das Netzwerk lässt sich unproblematisch durch Hinzufügen neuer Knoten erweitern. Etwa ausgefallene Sensoren können von bis zu 200 m entfernten Geräten kompensiert werden. In einem neuen Ansatz sollen Einzelsensoren auch von privaten Haushalten und Betrieben erworben werden können, damit sich diese an der Frühwarnung direkt beteiligen können. So könnten flächendeckend tausende Sensoren verteilt werden, um im Erdbebenfall in möglichst jedem Haus, jeder Etage oder sogar jeder Wohnung die Boden- und Gebäudebewegung zu erfassen. Derzeit wird ein stationäres Netz aus 20 SOSEWIN-Knoten im Stadtbezirk von Ataköy nahe dem internationalen Flughafen von Istanbul betrieben, um Funktionalität und Zuverlässigkeit der Systeme zu testen.

Mit SOSEWIN können neben der Erdbebenüberwachung auch meteorologische, geodätische oder optische Größen erfasst und ausgewertet werden. Das System wird bisher nicht nur in Istanbul, sondern auch in Bischkek (Kirgisistan), Thessaloniki (Griechenland) und Neapel (Italien) im Rahmen von Projekten eingesetzt und getestet. Ziel ist der Aufbau und die Realisierung eines zuverlässig funktionierenden Frühwarnsystems unter Beteiligung von SOSEWIN.

Zukünftig können selbstorganisierende Informationssysteme wie SOSEWIN voraussichtlich eine wichtige Rolle in der Messwerteerfassung und im Management von Ballungszentren übernehmen und zum Beispiel zur Verkehrsüberwachung, Flutwarnung bei Hochwasser oder Hitzewellen eingesetzt und flächendeckende Informationen ausfallsicher bereitstellen.

Text: Dr. Claus Milkereit, Deutsches GeoForschungsZentrum

Weiterführende Informationen

ESKP-Themenspezial: Metropolen unter Druck
 Das große Bangen – Erdbebengefährdung Istanbul. Ein Interview mit Erdbebenforscher Professor Marco Bohnhoff über die Gefahren eines starken Erdbebens in der Metropolregion.

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