Die wasser- und schmutzabweisenden Eigenschaften unserer Textilien verdanken wir meist speziellen Chemikalien. Einige halten sich extrem lange in der Umwelt und finden sich heute nahezu überall. Diese mäßig flüchtigen Verbindungen verbreiten sich über Landesgrenzen hinweg und werden vor allem in der Luft über weite Strecken transportiert. Immer neue, persistente organische Schadstoffe (POPs) kommen auf den Markt. Erst mit der Zeit kristallisiert sich heraus, dass es sich um besonders schlecht abbaubare Stoffe handelt, die sich zudem im Fettgewebe von Lebewesen und entlang der Nahrungskette anreichern. Dadurch entfalten sie auch für höhere Organismen eine immense Giftigkeit und können das Immun- und Hormonsystem empfindlich stören. Ein Gespräch mit Prof. Dr. Ralf Ebinghaus, Leiter der Abteilung Umweltchemie am Helmholtz-Zentrum Geesthacht, Zentrum für Material- und Küstenforschung über deren Verbreitung, Gefahren und die „globale Destillation“. Zum 2. Teil des Interviews geht es hier.


Haben wir hier in Deutschland einen Überblick, welche Mengen der POPs in der Vergangenheit ausgebracht wurden?

Prof. Ralf Ebinghaus: Generell ist es schwierig, an räumlich und zeitlich aufgelöste Daten von Emissionen zu kommen. Die Hersteller lassen sich da auch nicht so gerne in die Karten schauen. Erschwerend kommt hinzu, dass es sich in der Regel um Substanzgemische handelt, die in ihrer Zusammensetzung variieren können. Der Anwender weiß normalerweise auch nicht genau, welche exakte chemische Zusammensetzung er von einem Hersteller bekommt, weil er nicht eine chemisch definierte Substanzmischung, sondern eher eine Funktionalität kauft. Diese Funktionalität kann zum Beispiel die Feuerfestigkeit eines Möbelstücks gewährleisten oder den Grad der Wasserdichtigkeit einer Outdoor-Jacke. Wie das erreicht wird, ist dann natürlich Betriebsgeheimnis.


Woher haben Sie Ihre Daten zu Chemikalien aus vergangenen Zeiten?

Prof. Dr. Ebinghaus: Die Arktis ist ein wunderbares Archiv. Hier können wir selbst sehen, dass das Römische Reich Kupfermünzen geprägt hat. Wir beobachten auch, dass Platingruppenelemente aus Autokatalysatoren, oder Blei aus Benzin aber auch Seltene Erdelemente in der Arktis zum Teil mit ansteigenden Konzentrationen nachweisbar sind. Wir wissen, dass die Kryosphäre, dass also die Eisvorkommen auf der Erde, als Archiv für zurückliegende Emissionen in die Atmosphäre dient. Das konnten wir in eigenen Untersuchungen für eine ganze Reihe von klassischen aber auch neuartigen Schadstoffen zeigen. Man kann als Archive aber auch die Firnkerne in den Alpen heranziehen. Oder archivierte Robbenleberproben. Seit der großen Seehundstaupe 1985 gibt es diese Proben beim FTZ in Büsum, die heute anderen Wissenschaftlern dienen. Auch das Naturhistorische Museum von Stockholm hat Robbenleberproben. Diese Zeitreihe reicht bis 50iger Jahre zurück. Solche biologischen "Archive" liefern uns sehr wertvolle Daten. Essentiell ist darüber hinaus natürlich immer auch die Umweltprobenbank des Umweltbundesamtes.
 

Was macht POPs so besonders, warum sind sie eine große Gefahr für Mensch und Umwelt?

Prof. Dr. Ebinghaus: Die klassischen persistenten Schadstoffe haben eine gewisse Flüchtigkeit, aber sie haben gleichzeitig auch eine gewisse Neigung sich an Partikel anzuhaften. Ihre sogenannte mäßige Flüchtigkeit macht sie so besonders. Man findet sie aus diesem Grunde sowohl in der Gasphase, an Partikeln in der Luft, in Sedimenten und Lebewesen (Biota). Darüber hinaus aber auch gelöst oder an Partikeln im Wasser. Sie sind potentiell einfach überall. Und genau das macht diese POPs so bedrohlich. Ich gebe Ihnen mal ein anderes Beispiel. Es gibt ja die berüchtigten Fluorchlorkohlenwasserstoffe (Anm. d.Red.: inzwischen verbotene Kälte- und Lösemittel). Diese sind extrem persistent, "leben" Hunderte von Jahren. Es sind aber keine POPs, weil sie sich nur in der Luft befinden. Oder Methan. Es ist extrem langlebig, mit einer atmosphärischen Halbwertszeit von etwa 12 Jahren, aber verteilt sich nicht auf andere Kompartimente. POPs zeichnen sich wirklich dadurch aus, dass sie sich über alle Umweltkompartimente verteilen. Die gesundheitlichen Folgen der Anreicherung im Körper der Menschen sind vielfältig.


Kann man durch das eigene Verhalten - beispielsweise Ernährung - die Aufnahme von POPs beeinflussen? Sind Menschen, die besonders viel Fisch oder Fleisch zu sich nehmen, stärker gefährdet?

Prof. Dr. Ebinghaus: Das lässt sich leider nicht so ganz allgemein beantworten, da diese Substanzen oder Substanzgemische über ein ungeheuer breites Spektrum von physiko-chemischen Eigenschaften verfügen und sich daher sehr unterschiedlich in der Natur und damit auch in der Nahrung verteilen können. Die Nahrung ist für Erwachsene sicher ein besonders wichtiger Aufnahmepfad, aber für Kleinkinder kann zum Beispiel der Hausstaub eine größere Bedeutung haben. Generell kann man sicher sagen, dass sehr fettreiche Fische am oberen Ende der Nahrungskette höhere Konzentrationen enthalten. Auch Innereien von marinen Säugern sind hoch belastet. Für Inuit stellt diese Tatsache ein echtes Problem, da sie sich immer noch traditionell ernähren. Wir Europäer haben ja die Wahl und könnten auf Fisch verzichten.


Warum sind POPs gerade für einige aquatische Lebewesen so toxisch?

Prof. Dr. Ebinghaus: Das ist natürlich eine sehr wichtige Frage, denn die Konzentrationen im Meerwasser sind in der Tat sehr niedrig - nur wenige Milliardstel Gramm pro Liter. Um zu erklären wie es sein kann, dass so eine niedrige Konzentration problematisch ist, lassen Sie mich ein Beispiel verwenden. Stellen Sie sich einen Tiger und eine Katze vor: wer von beiden ist Ihrer Meinung nach gefährlicher für den Menschen? Klar, das ist der Tiger. Aber wenn ich Sie frage, von wem geht ein höheres Risiko für den Menschen aus, wird das schon etwas komplizierter. Todesfälle in der EU durch Tiger sind Null, Todesfälle durch Asthma, das auch durch Katzen ausgelöst werden kann, hingegen belaufen sich auf mehr als 10.000 pro Jahr.

Das Bindeglied zwischen Gefahr und resultierendem Risiko ist also die Exposition. Der Mensch begegnet einer Katze häufiger. Um zu den Meerestieren zurückzukommen: Sie sind diesen Schadstoffen ein Leben lang ausgesetzt und 24 Stunden am Tag exponiert. Hinzu kommt die enorme Anreicherung im Verlauf der Nahrungskette: aus 2 Nanogramm pro Liter im Meerwasser werden 200 Milligramm pro Kilogramm in Meeressäugern - diese Menge kann man schon fast sehen. Und ganz am Ende der Nahrungskette steht der Mensch!


Es gibt Studien, die zeigen, dass sich POPs, die im arktischen Eis und den Alpen gebunden waren, sich nun durch die Erderwärmung erneut in großen Mengen freisetzen? Erleben wir eine neue zweite Giftwelle durch die POPs?

Prof. Dr. Ebinghaus: Ja, das ist richtig und ein Problem auf das wir uns ganz sicher einstellen müssen. Die "kalte Kondensation" funktioniert eben nicht nur, wenn wir in Richtung Arktis blicken, sondern auch in hochgelegenen Gebieten der Erde, zum Beispiel in den Alpen oder im Hochland von Tibet. Substanzen reichern sich dort an, werden aufgrund der niedrigen Temperaturen noch langsamer abgebaut und lagern sich in Eis und Schnee ab. Taut das Eis und der Schnee, werden diese Verbindungen dann auch wieder freigesetzt. Das können wir kurzfristig an der ost-grönländischen Küste beobachten, wo im September der Gehalt an atmosphärisch herantransportierten Schadstoffen im Meerwasser durch die Schneeschmelze ansteigt. Gleiches gilt natürlich auch für ältere Archive, die beim Auftauen die konservierten Schadstoffe wieder freisetzen. Das betrifft im Übrigen nicht nur organische Schadstoffe oder POPs sondern auch zum Beispiel Blei aus Benzin früherer Zeiten, Plutonium aus dem oberirdischen Atomwaffentests oder, wie gerade kürzlich nachgewiesen, das Quecksilber. Auch dies ist eben nur vorübergehend festgelegt, solang das Archiv Eis intakt ist.


Aber, mal provokant gefragt, ist es für uns nicht sogar gut, dass sich unsere Schadstoffe nicht hier in Europa anreichern, sondern fernab in der Arktis?

Prof. Dr. Ebinghaus: Das wäre wirklich sehr kurzfristig gedacht. Zunächst gelangen die langlebigen Schadstoffe zwar in die Arktis. Dieser Prozess des langsamen, aber kontinuierlichen Wanderns von POPs in Richtung Arktis (und auch Antarktis) nennt man auch "globale Destillation" oder "kalte Kondensation". Die POPs sorgen aber schon da für große Probleme, denn sie reichern sich auch in der Nahrungskette an. Wir haben ja auch Fischfang in der Arktis. Unter den extrem kalten Bedingungen werden die Schadstoffe in der Zwischenzeit fast nicht abgebaut. Während sie in den gemäßigten Breiten langsam, aber immerhin abgebaut werden, bleiben sie in den polaren Gebieten unverändert. Taut das Eis wieder, wäre es also nur ein zeitlich befristetes Archiv.


Welche Folgen hat die Freisetzung von POPs in Europa und Nordamerika in anderen Regionen der Erde und hier insbesondere für die Bewohner der Arktis?

Prof. Dr. Ebinghaus: Inuit sind besonders gefährdet, weil sie traditionell auch die Innereien von Meeressäugern verzehren. Die derzeit problematischste Verbindung ist, aufgrund der hohen Konzentration, ein sogenannter neuartiger Schadstoff, der kürzlich in die Stockholm Konvention aufgenommen wurde. Es handelt sich um die Perfluoroctansulfonsäure (PFOS), welche beispielsweise zur Imprägnierung von Textilien, Teppichen und Papier genutzt wurde. Die höchste Konzentration von PFOS im Blutplasma eines männlichen Inuits aus Nunavik lag bei fast 500 Mikrogramm pro Liter. Etwas zugespitzt kann man also sagen, dass der Gewinn in Europa und Nordamerika gemacht wurde, die Folgen aber am deutlichsten weit weg, in der Arktis zu spüren sind. Fair ist das ganz sicher nicht.


Was finden Sie besonders eklatant? 

Prof. Dr. Ebinghaus: Nun ja, die Dimensionen: 56 Millionen Menschen sterben jährlich weltweit, davon laut Berechnungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) etwa 9 Millionen durch chemische Verschmutzung. Zum Vergleich: 3,4 Millionen sind es durch Tuberkulose, Malaria und Aids zusammen. Hier werden einige Dimensionen bewusst. Da fragt man sich natürlich auch, warum die chemische Verschmutzung nicht ein genauso großes Thema ist wie der Klimawandel oder die Malariabekämpfung?


Herr Prof. Dr. Ebinghaus, wir danken für das Gespräch.

Das Interview führte ESKP - Jana Kandarr.

  Zu Teil 2 des Interviews.
  Das vollständige Interview als PDF (500 KB)

Weiterführende Informationen

  Quante, M., Ebinghaus, R. und G. Flöser (2011): Persistent Pollution – Past, Present and Future. School of Environmental Research - Organized by Helmholtz-Zentrum Geesthacht. Link

  Heydebreck, F. et al. (2016): Emissions of Per- and Polyfluoroalkyl Substances in a Textile Manufacturing Plant in China and Their Relevance for Workers’ Exposure. Environmental Science Technology, 2016, 50 (19), pp 10386–10396. Link

  Sühring, R. et al. (2015): Maternal transfer of emerging brominated and chlorinated flame retardants in European eels. Science of the Total Environment 530–531. pp 209–218. Link

  Heydebreck, F. et al. (2015): Alternative and Legacy Perfluoroalkyl Substances: Differences between European and Chinese River/Estuary Systems. Environmental Science Technology, 2015, 49 (14), pp 8386–8395. Link

  Sühring, R. et al. (2013): Brominated flame retardants and dechloranes in eels from German Rivers. Chemosphere. 90(1). pp 118-24. Link

  Stellungnahme Nr. 032/2019 des BfR vom 21. August 2019: "Neue gesundheitsbezogene Richtwerte für die Industriechemikalien PFOS und PFO". DOI 10.17590/20190821-105231

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